Über Mädchen und Jungen

Bald schon im April haben die Kinder Geburtstag. Martha wird drei und Simon sechs Jahre. Zwischen den Geburtstagen der Kinder liegen nur zwölf Tage. Es wird Zeit die Geschenke zu besorgen. Die Kinder haben schon eine Menge Spielzeug und die Verwandten werden sie sicherlich auch noch reich beschenken. Daher bekommen sie von uns nur eine Kleinigkeit. Bücher mögen beide und die bauen auch nicht so groß. Glücklicherweise haben die Buchhandlungen derzeit geöffnet, also nichts wie los. Im Laden angekommen stehe ich erst mal etwas orientierungslos vor den Regalen mit Kinderbüchern. Es sind viele und ich versuche zunächst die Ordnung zu erkennen. Ein freundliche Verkäuferin nähert sich und lächelt unter ihrer Maske. „Kann ich Ihnen helfen? Was suchen Sie denn?“
„Ich suche Kinderbücher“ sage ich etwas überflüssigerweise, da wir ja schon vor den entsprechenden Regalen stehen.
„Für einen Jungen oder ein Mädchen?“ versucht die Dame die Suche einzugrenzen.

Darüber muß ich erst mal nachdenken. Naiverweise hatte ich angenommen, daß die Bücher nach Themen sortiert sind. So findet man Bücher ja auch normalerweise. Sachbücher, weiter geordnet nach Umwelt, Kochen, Technik, Gesundheit, usw. Romane nach Genre und dann nach Autor. Simon hat derzeit großes Interesse an der Raumfahrt und Raketen. Alexander Gerst steht daher hoch im Kurs. Würde ich das bei den Jungsbüchern finden? Und wenn dem so ist, wäre das überhaupt kein Thema für Mädchen? Für Martha dachte ich an ein Ausmalbuch. Vielleicht würde sie ja gerne Raketen und Planeten ausmalen. Würde ich das dann bei Mädchen oder bei Jungen finden?

Seit der Zeit, da ich Kinder habe, frage ich mich, warum wir die Interessen der Kinder von Geburt an häufig über das Geschlecht bestimmen. Immer wieder habe ich Eltern getroffen, die zu jedem Zeitpunkt immer genau wussten, was ihr Baby oder Kleinkind gerade benötigt und woran es Interesse hat. Ich habe mich dann manchmal wie ein gefühlloser Vater gefühlt, da ich oft nur Vermutungen dazu anstellen konnte, was denn meine Kinder so bewegt. Erst als die Kinder anfingen zu sprechen, konnte ich sie nach ihren Wünschen auch fragen. Meistens erhalte ich eine Antwort, aber nicht immer ist diese dann auch beständig. Daher habe ich nie ein ganz feste Vorstellung über die Interessen meiner Kinder. Wir haben von unseren Freunden schon viel Spielzeug von deren Kindern geschenkt bekommen. Die Kinder nehmen sich dann davon, was sie gerade interessiert. Ich selbst habe damals als Kind eine Puppe bekommen, weil ich auf die meiner Schwester recht neidisch war. Ich erinnere mich, daß wir damit recht häufig gespielt haben. Die Puppe hat dann zunächst die Kinder meiner Schwester noch überlebt, bevor sie zu Simon kam. Er spielte eine Weile damit und später erbte sie Martha. Sie hatte ähnliches Interesse daran und nun liegt sie in irgendeiner Schublade.

Man findet mittlerweile mannigfaltige, vorgeblich geschlechtsspezifische Produkte. In der Drogerie bieten sie rosa Prinzessinen- und blaue Ritterseife an. Neutrales Malpapier ist mitunter schwer erhältlich. Und wenn Du geglaubt hast, Du könntest so einfach neutrale Kleidung kaufen, die sowohl Deine Tochter als auch Dein Sohn anziehen kann, dann hast Du die Rechnung ohne die Modeindustrie gemacht. Schließlich wollen die ja zweimal verdienen. In zeitgenössischen Kinderbüchern dürfen die Jungs gegen das Böse kämpfen oder Schätze entdecken. Demgegenüber gehen Mädchen einkaufen oder kämmen eine Katze. Solche Beispiele sind natürlich extrem, aber es gibt sie in ganz alltäglichen Dingen. Mein Lieblingsbuch mit vielen Bildern handelt über eine junge Familie. Die Mutter bringt die Kinder zur Kita, holt sie wieder ab und geht dann mit ihnen einkaufen. Anschließend gestalten sie den Nachmittag. Der Vater ist im ganzen Buch nur auf einem kleinen Bild als Schatten hinter einer Windschutzscheibe angedeutet, als er zur Arbeit fährt.

Wir alle haben starke Muster und Bilder im Kopf. Die brauchen wir auch, andernfalls würde die Welt uns überfordern. Diese Vorstellungen erben wir von unseren Eltern und unserer Umgebung. Diese Vorstellungen ändern sich nur allmählich mit jeder Generation, wenn überhaupt. Vorstellungen haben wir auch von unseren Kindern. Ich war mit Simon als Kleinkind zu einem Schwimmkurs mit anschließender Sauna. Typischerweise kamen dorthin die Mütter aber ab und zu auch ein Vater. Fast alle älteren Mädchen hatten da schon lange Haare. In der Sauna haben sich dann die Mütter beschwert, daß sie damit schon recht viel Arbeit haben. Ich habe sie gefragt, warum sie denn dann die Haare ihrer Töchter lang wachsen lassen. Die Mütter hatten darauf aber keine Antwort. Ich vermute, daß auch hier ein solches Bild im Kopf die Ursache ist. Mädchen sind ja eher brav, geschickt und hübsch. Also sollen sie auch so aussehen. Jungen sind wild, grobmotorisch und ungekämmt. Deshalb müssen sie auch nicht hübsch aussehen. Niemand erwartet das von ihnen. Manchmal habe ich den Eindruck, daß Mädchen von Anfang denken müssen, daß hübsch aussehen in ihrem Leben eine hervorgehobene Stellung einnehmen soll und wird.

Bitte versteht mich nicht falsch. Sicherlich gibt es viele physiologische Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen und ich verstehe nicht viel davon. Jungen haben beispielsweise einen anderen Hormonhaushalt als Mädchen. Und deshalb sind sie tatsächlich etwas ungesteuerter. In der Kita spielen Jungs eher mit ihren Geschlechtsgenossen und Mädchen mit den ihrigen. Dabei kommt es dann auch manchmal zum Streit zwischen den Gruppen. Bei uns in der Kita gab es wohl deswegen Gespräche und es wurden gemeinsam mit den Kindern Regeln ausgearbeitet und auf Plakate geschrieben und gemalt. Mein Favorit auf den Plakaten war: „Jungen sollen die Mädchen nicht einbuddeln.“

Das Geschlecht ist sicher ein wichtiges Merkmal und Kinder dürfen und sollen das entdecken. Vielleicht haben Mädchen öfter Interesse an sozialen Spielen und Jungen eher an Kampf. Aber wenn dem so ist, muß ich das ja nicht befördern. Es entsteht sowieso von selbst. So eine Verallgemeinerung hat auch für Jungen und Mädchen überhaupt keine Bedeutung, bei denen das eben nicht so ist. Wenn ein Junge lieber mit Puppen spielt, anstatt zu kämpfen ist das weder besser noch schlechter. Und warum könnte ein Junge nicht manchmal kämpfen und dann auch wieder seinen Teddybären anziehen?

Martha wird nun drei Jahre alt. Sie malt öfter und auch genauer als Simon im gleichen Alter. Sie wirkt in der Feinmotorik auch geschickter. Ansonsten habe ich noch keine großen Unterschiede festgestellt. Martha hat kurze Haare, was auch dem Umstand geschuldet ist, daß weder die Mutter noch der Vater Zeit und Lust haben, sich um die Frisuren der Kinder zu kümmern. Martha ist auch oft wild und schreit ähnlich laut wie Simon. Ich ziehe sie mit dem an, was mir gerade in die Hand fällt. Manchmal sogar ein Kleid und andere schöne selber genähte Sachen von der Oma. Oft auch irgendetwas, was Simon vorher schon getragen hatte und vor Simon andere Kinder. Auf dem Spielplatz wird Martha dann meistens für einen Jungen gehalten. Das liegt aber sicher auch an ihrer kompakten Bauform. Mir ist das einerlei und ich verbessere die anderen Eltern nicht.

Damals hatte ich auf dem Flohmarkt Schuhe für Simon gefunden, die er dann heiß und innig liebte. Sie hatten nur den Makel, daß darauf dezente rosa Blumen aufgenäht waren. Plötzlich wollte sie Simon nicht mehr tragen, da es „Schuhe für Mädchen“ waren. Das haben ihm jedenfalls die anderen Jungen in der Kita gesagt. Ich weiß nicht mehr, wie wir das gelöst haben. Gezwungen hätte ich ihn jedenfalls nicht, die Schuhe weiter zu tragen. Schlußendlich hatte er sich wohl entschieden, die Schuhe weiter zu tragen, da er sie so mochte.

Irgendwann in der Zukunft werden die sozialen Gruppen noch mehr Einfluss auf die Kinder nehmen. Martha wird sich die Haare lang wachsen lassen, wird nur noch schicke Kleidung anziehen wollen und sich den lieben langen Tag damit beschäftigen, was andere wohl über sie denken. Das ist in Ordnung. Sie soll sich und ihre Welt entdecken und ausgestalten. Als Eltern drücken wir den Kindern eh schon einen großen Stempel auf. Ich hätte nur gerne, daß dieser Stempel auch mehrere Seiten hat und die Kinder mehr Modelle und Möglichkeiten wahrnehmen werden. Das Leben ist doch zu kurz, um sich auf eine Rolle zu beschränken.

2 Kommentare zu „Über Mädchen und Jungen

  1. einverstanden. Es gibt viel (zu viel) von außen eingegeben. Sogar in der Kita manche Erzieher/in machen kleine Unterschiede oder interpretieren anders die Kinderverhalten wenn sie Mädels oder Jungs sind. Ich selber hatte lange Zeit kurze Haare und habe die alte Klamotten meinen Bruder aber auch Kleider getragen, ich habe Fußball gespielt, wurde oft als Jung verwechselt, ich habe sogar männliche Charaktere in Theater gespielt weil meine Stimme eher rau ist. Ich habe gut gekämpft mit anderen Kinder aber auch manchmal auf meine Klamotten aufgepasst (Spoiler: Jungen machen es auch!) Ich habe immer gehasst dass die Interesse wegen Geschlecht sortiert werden. Als sie mir in Buchladen, Spielzeuggeschäfte und sogar Klamottengeschäfte nach Geschlecht fragen werde ich direkt genervt, und oft verlasse ich den Laden… Ich glaube nicht das dies besser wird. Wir versuchen unsere Gesellschaft mit mehr Geschlechtergerechtigkeit zu verbessern und gleichzeitig unterstützen wir eine ständige Geschlechtsdifferenzierung. Es wird nicht funktionieren.

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    1. Ja, das ist wahr. Früher gab es gar nicht so viele Produkte, die augenscheinlich einem Geschlecht zuzuordnen wären. Das hat sich wohl in den letzen 20,30 Jahren eher noch verstärkt. Was mich nicht wundert ist, daß die Industrie das so anbietet. Was mich aber wundert ist die Nachfrage dazu. Wer kauft bspw. für sein erstes Kind (Tochter) ein knallpinkes Fahrrad um dann vielleicht später noch einen Sohn zu bekommen?
      Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf. Es wird natürlich dauern, aber vielleicht erkennen immer mehr Männer und Frauen die Vorzüge von Vielfalt und die Nachteile von Vorfestlegung.

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